TikTok für Unternehmen – mehr als Hype?

von Philipp Riederle

Keine App wurde weltweit bislang häufiger heruntergeladen als TikTok. In dieser Ausgabe versuchen wir, den Hype um TikTok zu entschlüsseln – und herauszufinden, inwiefern TikTok auch für Unternehmen ein relevanter Kanal ist. Wir sprechen über Relevanz, Funktionsweise, Kritik am chinesischen Herstellerunternehmen und die Einsatzmöglichkeiten für Unternehmen. Außerdem unterhalten wir uns mit der Volksbank Mittelhessen, die über TikTok in kürzester Zeit ein Millionenpublikum erreicht.

Inhalt der Folge

Relevanz

Social Media App des Jahres

Seit Juli 2018 ist TikTok unter den vier meist heruntergeladenen Apps weltweit und hat so Instagram und Snapchat überholt. Doch das ist noch nicht alles: Seit dem ersten Quartal 2020 ist es die weltweit mit Abstand am häufigsten heruntergeladene App! Die über 315 Millionen Neuinstallationen in diesem Quartal sind etwa doppelt so viel wie die von Facebook oder Instagram. Noch nie wurde eine andere App in nur einem Quartal so häufig heruntergeladen wie TikTok.

Die App wird in mehr als 150 Ländern weltweit genutzt. Allein in Deutschland gibt es schon 5,5 Millionen regelmäßige Nutzer. Das sind etwa sechs Prozent der deutschen Bevölkerung. Die Nutzer verweilen im Schnitt 52 Minuten täglich auf der App. Die Weltwahrnehmung der Nutzer kann durch die App beeinflusst werden. Man kann sogar davon sprechen, dass eine Subkultur unter den Nutzern entsteht. Es gibt Insider, die nur die User der App verstehen. Nehmen wir als Beispiel die Bekanntheit des Liedes Old Town Road. Der alte, zunächst unscheinbare Song von Lil Nas X gewann an neuer Popularität, als er auf TikTok zur Challenge wurde. Er schaffte es, für 19 Wochen an der Spitze der US Billboard Charts zu bleiben und so einer der erfolgreichsten Songs überhaupt zu werden.

Wie funktioniert TikTok?

Als Social Media App ist TikTok zwischen YouTube und Instagram positioniert. Die App funktioniert als „Video only“ mit maximal 60 Sekunden Länge. Das bedient die geringe Aufmerksamkeitsspanne, die der digitalen Generation nachgesagt wird. Hochgeladene Videos lassen sich in der App bearbeiten und kreativ zusammenschneiden. Ursprung der App ist Musical.ly. Auf der App konnten eigene Videos, in denen die Lyrics mit Mundbewegungen nachgeformt wurden, über bestehende Audios gelegt werden – das sogenannte Lip-syncing. Nach dem gleichen Schema funktioniert ein Großteil der TikTok-Videos. Einige davon werden als Challenges bekannt, indem viele User zu einem gleichen Audio ihre Videobeiträge filmen.

Warum ist TikTok bei der digitalen Generation so beliebt?

Was TikTok so besonders macht, ist die Funktionsweise der „For You“ Page. TikTok bricht mit der gewohnten Social Media-Funktionsweise von Folgen und Abonnieren. Zwar gibt es diese Funktion bei TikTok auch, doch liegt der Fokus auf der „For You“ Page. Auf dieser sieht der User für ihn vorgeschlagene Videos. Die Auswahl der personalisierten Videos wird von der ausgereiften Artificial Intelligence von TikTok getroffen. Die AI analysiert jedes hochgeladene Video hinsichtlich des Audio- und Videoinhalts und die Reaktion des Nutzers. Dabei spielt eine Rolle, wie lange ein Video angesehen wird, wann und wie es geliked und geshared wird. Durch diesen ausgefeilten Algorithmus kann TikTok seine Nutzer sehr schnell und genau kennenlernen, biographische, charakterliche Eigenschaften ableiten, Interessen und Gewohnheiten erkennen. Auf diese Erkenntnisse hin werden schließlich die Videos ausgesucht, die dem User angezeigt werden. Mit hoher Wahrscheinlichkeit treffen diese den Geschmack des Nutzers, was ihm noch mehr Lust auf weitere Videos macht.

Neu bei dem Konzept von TikTok ist auch, dass man, um einen Hit zu landen, nicht erst Follower aufbauen muss. Man kann schon durch ein einzelnes Video innerhalb weniger Stunden den Erfolg von Tausenden Views und Likes haben. Ob der Inhalt gelungen ist oder nicht, entscheidet zunächst der Algorithmus. Danach wird das Video einer kleinen Zahl von Usern angezeigt. Wenn diese positiv reagieren, steigt die Nutzerzahl weiter, bis es bei einer großen Anzahl von Usern im „For You“ Feed angezeigt wird. Immer mehr Nutzer wollen ihre „For You“ Page nicht mehr öffentlich zeigen, denn die dort vorgeschlagenen Videos sagen viel über die jeweiligen Nutzerinteressen und die Persönlichkeit.

Kritik an TikTok

Jugendschutz

Die App hat sehr viele junge User. Offiziell ist die Nutzung erst ab 13 Jahren und mit Zustimmung der Eltern erlaubt, was aber schwer zu kontrollieren ist. Deshalb gibt es auch viele jüngere Nutzer. Die Altersfrage ist aber bei Social Media ein allgegenwärtiges Problem, was sich nur mit Medienkompetenz lösen lässt. Eltern sollten mit ihren Kindern über die Inhalte und Interaktion in den Medien sprechen. Nutzungsverbot ist meist kontraproduktiv, denn dann ist es für die Kinder nur noch reizvoller, die Medien zu nutzen, jedoch dann ohne Rücksprache mit den Eltern. Ein vertrauensvolles Verhältnis ist also wichtig!

Mit dem Ziel, möglichst viele Likes und Views zu bekommen, machen Nutzer bei einer Vielzahl an Challenges mit. Diese können aber gefährlich oder auch beleidigend gegenüber anderen sein. Eine Challenge, bei der es darum geht, Kühe zu erschrecken, hat für Aufsehen gesorgt, weil dabei Mensch und Tier zu Schaden gekommen und sogar gestorben sind. Eine weitere fragwürdige Challenge ist die „Bag Challenge“, bei man anderen Personen eine Tasche ins Gesicht schlägt.

Chinesischer Einfluss

Die größte Kritik an TikTok bezieht sich aber darauf, welche Inhalte viel und welche weniger Reichweite bekommen. Neben dem Algorithmus kommen ab einer gewissen Reichweite auch menschliche Content-Moderatoren hinzu. Diese bewerten Videos, die dann in den algorithmisch generierten „For You“ Feed kommen oder zurückgehalten werden. Genau bei diesem Vorgang steht das chinesische Unternehmen ByteDance, das Hersteller der TikTok App ist, in der Kritik. Denn die Kriterien der Moderatoren sind intransparent. Es gibt Berichte, Gerüchte und auch Leaks von Whistleblowern, die sagen, dass Videos mit kontroversen politischen Inhalten, beispielsweise zum Thema Homosexualität, zurückgehalten werden.

Außerdem ist es in China, einem Land, das nicht auf demokratischen Werten basiert, nicht auszuschließen, dass die Regierung Einfluss auf die dort ansässigen Unternehmen nimmt. So wird vermutet, dass auch sie mitbestimmt, welche Inhalte eine große Reichweite bekommen. Offiziell dementiert das Unternehmen den Einfluss der chinesischen Regierung und verspricht, dass keine Daten von ausländischen Nutzern an die chinesische Regierung gegeben werden. Zudem versucht ByteDance, ein China-unabhängiges Image zu gewinnen. Es ist sogar eine Abspaltung des Unternehmens in die USA im Gespräch. Schon jetzt gibt es Server in den USA und Singapur, wo Daten gespeichert werden.

Wie kann TikTok von Unternehmen eingesetzt werden?

  • Nutzung im Unternehmen: TikTok ist für viele Unternehmen interessant, weil man ohne Werbebudget eine große Reichweite hat. Dafür müssen die Videos aber Anklang finden. Bisher wird die App von Unternehmen vor allem zur Stärkung des Markenimages eingesetzt und zum Employer Branding. Ein positiver Nebeneffekt kann dabei auch das Team Bonding sein. Durch Dreh und Inszenierung kann die kreative Aufgabe das Team verbinden und die Hierarchie lockern. Wenn sich auch Chef und Vorstand nicht zu schade sind, im Video aufzutreten, dann profitiert die Unternehmenskultur und der Teamspirit. Besonders erfolgreiche Unternehmen auf TikTok rufen sogar zu eigenen Challenges auf. Mercedes Benz hat z.B. die #MB Star Challenge gegründet. Daraufhin entstanden Tausende kreative Videos mit Darstellungen des Mercedes-Sterns, die über 800 Millionen Views bekommen haben.
  • Marketingplattform: TikTok kann aber auch als klassische Marketing-Plattform genutzt werden. In diesem Fall bezahlt man das Unternehmen dafür, dass das eigene Video häufig ausgestrahlt wird. Bislang wird diese Möglichkeit aber selten genutzt, aufgrund mangelnder Vorerfahrung der Marketing Teams und intransparenten Kosten. Das klassische Influencer-Marketing, wie wir es von YouTube oder Instagram kennen, funktioniert auf TikTok nicht so richtig. Denn Follower sind nicht mehr so wichtig wie Views.

Best Practice: Volksbank Mittelhessen

Beim Testen und Nutzen von TikTok sind wir im „For You“ Feed immer wieder auf das Video der Volksbank Mittelhessen gestoßen. Die traditionelle Genossenschaftsbank hat es geschafft, in wenigen Wochen über 14.000 Follower auf TikTok aufzubauen. Ihre Top 3-Videos erreichen je 500.000, 1 Million und 1,6 Millionen Menschen. In ihren Videos machen alle mit, Mitarbeiter und auch Vorstände. Schon jetzt stellen die TikTok Views und Interaktionen die bisherige Social Media-Präsenz der Bank auf Facebook oder Instagram in den Schatten.

Wir haben mit Vorstand Dr. Lars Witteck und der Auszubildenden Neele Keßler gesprochen, die den TikTok Account mit initiiert hat.

Philipp Riederle: Wie kamt ihr auf die Idee, mit TikTok zu starten?

Dr. Lars Witteck: Wir hatten die Idee, dass die Azubis sich in kurzen Phasen von 2–3 Wochen zur Verfügung stellen und den Account bespielen. Wir haben es für authentischer gehalten, wenn die jungen Leute das machen. Die Azubis konnten sich auf die Stellenausschreibung bewerben. So kam auch Neele in das Team.

Philipp Riederle: Was ist euer Erfolgsgeheimnis?

Neele Keßler: Unsere Authentizität und der Bruch mit dem herkömmlichen Image einer Bank. Junge Leute, die TikTok machen, sind gang und gäbe. Das aber im Namen einer Bank zu machen, ist eher ungewöhnlich.

Philipp Riederle: Eure Videos sind ja vor allem lustig und unterhaltsam, mit Tänzen, Lip-syncs, Challenge und Memes. Gab es Befürchtungen, dass das am Bild einer seriösen Bank kratzen könnte? Was sagen die älteren Generationen der Kollegen und auch der Kunden dazu?

Neele Keßler: Ich selber hatte nie Befürchtungen. Wir haben von Anfang an darauf geachtet, was für Videos und Texte wir nehmen können, im Wissen, dass wir eine Bank vertreten. Anfänglich konnten viele Mitarbeiter nicht so viel damit anfangen. Aber inzwischen haben wir viele Anfragen von Kollegen, die mitdrehen wollen, weil sie Spaß daran haben.

Dr. Lars Witteck: Selbstverständlich sind wir, wenn es um das Geld der Kunden geht, absolut seriös und sorgfältig. Geht es aber darum, junge Leute auf uns aufmerksam zu machen, kann man auch mit Klischees spielen und witzig sein. Man muss mit Raiffeisen kommen: Was einer nicht schafft, das schaffen viele. Diese Botschaft muss man immer wieder neu verpacken. Was zeichnet eine Genossenschaft eigentlich aus? Da ist uns wichtig, die ganze Bandbreite zu erreichen. Alt und traditionell genauso wie jung und modern. Und TikTok ist unser Kanal, die jungen Leute zu erreichen.

Philipp Riederle: Wie viel Zeit und Aufwand steckt ihr in den TikTok-Kanal?

Neele Keßler: Anfänglich waren es der Stellenausschreibung nach Vollzeit 3 Wochen. In dieser Zeit haben wir uns eingearbeitet, Videos geschnitten und gedreht.

Dr. Lars Witteck: Wir haben auch einen Pressesprecher, der sich ganztags darum kümmert. Denn Social Media Accounts sind eben auch ein Kanal, der mittlerweile für eine bestimmte Zielgruppen sogar wichtiger ist als eine Tageszeitung oder ein Radiosender. Also müssen wir in die Richtung auch Input geben. Es hat außerdem den Vorteil, dass unsere Azubis, die das immer in kurzen Abschnitten übernehmen, so auch immer die Bank und die Kollegen noch besser kennenlernen.

Philipp Riederle: Einen so weitreichenden Kanal von Azubis bespielen zu lassen, ist schon riskant. Wie stellt ihr da die Qualität sicher? Gibt es da Freigabeprozesse?

Neele Keßler: Wir machen die Videos immer zu zweit oder dritt. Meistens schaut auch das Social Media Team noch einmal drüber.

Dr. Lars Witteck: Wir haben uns bewusst entschieden, dass kein Abteilungsleiter oder Vorstand drüber schaut. Wir vertrauen den jungen Leuten und glauben, dass sie das gut machen. Bisher funktioniert das gut.

Philipp Riederle: Hand aufs Herz: Was bringt euch der Account wirklich?

Dr. Lars Witteck: Es ist noch niemand in die Filiale gekommen und aufgrund von TikTok Neukunde geworden. Das ist aber auch nicht unser Ziel. Es ist Teil der Markenbindung und Arbeitgeber-Brandings. Wenn am Ende zwei kreative, interessierte, junge Leute hängen bleiben, die bei uns ausgebildet werden wollen, weil sie uns auf TikTok entdeckt haben, dann hat sich das schon gelohnt. Denn auch wir spüren, dass wir um gute junge Leute kämpfen müssen und wollen.

Neele Keßler: Wir haben aber immer mehr Nachfragen nach Ausbildungsplätzen und Praktika. Außerdem sind wir präsent und wurden sogar auch schon auf der Straße angesprochen.

Philipp Riederle: Welche Empfehlungen gebt ihr Unternehmen auf den Weg, die sich überlegen, einen TikTok Account zu eröffnen?

Dr. Lars Witteck: Authentizität ist wichtig. Ich würde echten Spirit zeigen, keine Fassade. Das merken die User.

Neele Keßler: Einfach mal machen und auch die jungen Leute machen lassen. Das ist mein Tipp.

Als Unternehmen konkret loslegen

  1. Nehmt den TikTok-Trend ernst, es ist der neue große Trend in Social Media! Die App hat eine unglaubliche Nutzerbasis, die schneller als auf jeder anderen App wächst. TikTok hat seine ganz eigenen Regeln. Der Content kann nicht von anderen Kanälen kopiert werden, sondern muss kreativ und einzigartig sein.
  2. Macht euch keinen Druck bei der Erstellung der Inhalte. Denn das Erfolgsgeheimnis ist Authentizität!
  3. Startet Bottom-up! Seid mutig und setzt eure jungen Leute dran. Denn die wissen am besten, was gut ankommt.