Universität für die Zukunft

von Philipp Riederle

Liebe Hochschulen,

ich könnte momentan Euer Student sein. Ich gehöre zur Digitalen Generation; wir sind mit dem Internet aufgewachsen und konnten es nicht erwarten, aus dem analogen Schulalltag des vergangenen Jahrhunderts herauszukommen. Endlich zu Euch, endlich Bildung am Puls der Zeit. Bei Euch wird hochtechnologisch geforscht, Ihr gestaltet die Welt von morgen. Nirgendwo sonst kommen wir der Zukunft näher! Oder?

Es gibt dann doch einige Dinge, die uns irritieren. Wieso übertragt Ihr überfüllte Vorlesungen per Video in den Nachbarsaal, aber so selten ins Internet? Zwar experimentieren immer mehr Universitäten mit der Aufzeichnung ausgewählter Vorlesungen. Wieso aber ist das nicht schon längst gültiger Standard? Mit entsprechendem Equipment und automatischen Workflows bedeutet das nicht einmal zusätzlichen Personalaufwand. Und wieso sind die aufgezeichneten Vorlesungen so oft nur eingeschriebenen Studierenden zugänglich? Hat nicht die gesamte Gesellschaft sie finanziert? Wie jetzt – Eure Professoren und Lehrbeauftragten weigern sich, mit ihren Vorlesungen in der Öffentlichkeit zu stehen? Gehört das nicht zentral zum Berufsbild?

Apropos Berufsbild: Wieso müssen eigentlich im ganzen Land zeitgleich Hunderte Lehrbeauftragte die nahezu identische Einführungsvorlesung zum Besten geben? Welch unfassbare Ressourcenverschwendung! Leidtragend sind ja oft beide Parteien: Die Lehrenden würden in der Zeit eigentlich lieber forschen. Und die Studierenden sind mit begrenztem didaktischem Talent und überschaubarer Begeisterungsfähigkeit konfrontiert. Wieso stellen denn nicht die Top-5-Lehrenden ihres Fachgebiets ihre erstklassigen Vorlesungen landesweit zur Verfügung – und alle lernen von ihnen? Oder noch besser: Sie produzieren extra entwickelte Online-Vorlesungen, die sich dann für die große Hörerschaft lohnen.

Ihr wollt gerade schon zum Aufschrei ansetzen? Wo bleiben denn hier Individualität, Vielfalt, Freiheit der Lehre! Nun ja, wenn sich die meisten Vorlesungen auf nur zwei Standardlehrbücher beziehen und oft auch dieselben mitgelieferten Folien abgespult werden, zeugt dies natürlich von riesiger Individualität und Vielfalt. Seht es doch eher so: Örtliche Lehrbeauftragte ergänzen um individuelle Schwerpunkte, stehen für Fragen, Übungen und Betreuung zur Verfügung. Und alle gewinnen.

Seid Ihr bis hierhin einverstanden? Dann erklärt uns doch auch noch dieses Phänomen: Wieso gibt es allein in Deutschland derzeit 19.000 verschiedene Studiengänge? Hier BWL mit diesem oder jenem Fokus, hier der Wirtschaftsingenieur mit ein bisschen mehr oder weniger Technik, dort der Sozialwissenschaftler mit dieser oder jener interdisziplinären Perspektive. Braucht es dafür wirklich so viele partikulare Lehrpläne, die sich nur minimal unterscheiden? Ist das sinnvoll? Wer blickt da noch durch? Liebe Universitäten, ich finde Ihr könntet Euch Netflix zum Vorbild nehmen. Dort, oder auch bei YouTube, haben alle Nutzer mit demselben Abo Zugriff auf die Inhalte unterschiedlichster Produzenten. Ich stelle mir das so vor: Als Student melde ich mich bei einer beliebigen Universität an, ohne mich auf einen Studiengang festzulegen.

Mit meinen Zugangsdaten logge ich mich auf einer zentralen Plattform ein, wo mir das gesamte Lehrangebot aller Universitäten zur Verfügung steht. Kenne ich bereits meine Interessen, stelle ich zielgerichtet meine Veranstaltungen selbst zusammen. Falls nicht, gibt es beispielhafte Playlists (was Ihr ehemals Studiengänge nanntet) oder Vorschläge vom System: „Basierend auf deinem bisherigen Verlauf könnten dich folgende Veranstaltungen interessieren …“ Dabei behalte ich vollkommene Freiheit über die Gestaltung meines Studiums. Jeder Studierende kann sich individuell an den eigenen Lernbedürfnissen und Zielsetzungen orientieren.

Mein erstes Semester könnte so aussehen: Weil sie die meisten Likes und besten Bewertungen hat, wähle ich die Online-Vorlesung der TU München „Einführung BWL“. Ergänzend dazu bietet sich an, die interaktive Lernsoftware „Statistik für Wirtschaftswissenschaftler“ vom XY-Verlag zu absolvieren. Gleichzeitig klinke ich mich, weil ich in Berlin lebe, bei der Vor-Ort-Arbeitsgruppe Bilanzanalyse am Campus der FU Berlin ein und wähle noch das Präsenz-Seminar „Maschinen-Design“ an der UdK. Und weil mich dieses Thema so brennend interessiert, wird meine Semesterplanung durch einen Blockkurs an der Hochschule Weihenstephan abgerundet: „Durchfluss-Controlling für Melkroboter“. Möchte ich ein Zertifikat, das mir Kenntnisse (Ihr nennt es Kanon) auf einem gewissen Fachgebiet bescheinigt? Dann erfülle ich eben die Mindest-Credits auf den vorgegebenen Themen.

Lieber einen reibungslosen Übergang auf den Arbeitsmarkt? Dann erlaube ich Unternehmen, auf der Plattform meinen individuellen Studienverlauf einzusehen, um mich bei einem perfekten Match direkt anzusprechen. Oder ich folge bereits einer Unternehmens-Playlist, in der ein Unternehmen Veranstaltungen zusammengestellt hat, die auf bestimmte (Zukunfts-)Berufe vorbereiten. Vielleicht aber habe ich mich auch bereits für ein Unternehmen als Praxispartner entschieden, mit dem ich das Studium dual absolviere. Die notwendige Flexibilität bietet die Plattform.

Na, wie wäre das? Und wie wäre es erst, würden wir diese Plattform als eine Europäische Universität denken? Wir sind jedenfalls hochmotiviert! Und gespannt auf Eure Zukunftsentwürfe.

Bis bald, wir sehen uns in der Zukunft!
Eure Digitale Generation

 

Dieser Artikel ist zuerst am 18.04.2019 unter dem Titel “Liebe Hochschulen, es gibt da einige Dinge, die müsst ihr uns mal erklären” als Gastbeitrag in der Deutschen Universitätszeitung (Ausgabe 04/2019) erschienen.